Sonntag, 5. Mai 2013

Frage an das Volk

Wertes Volk, mir kommt Eure Bezeichnung nur allzu oft unter die Augen. Erklärt mir, dem Narren, doch bitte wer Ihr seid. 

Man sagt ja bekanntlich, dass die Identitätsprobleme in der Pubertät auftauchen. Anscheinend bin ich ein Spätzünder oder ich komme ins Zweifeln, da mir ans Herzen gelegt wird, nun Argentinier zu sein. Aber um ganz ehrlich zu sein, mag ich schlicht dieses Wort Volk nicht. Deshalb entschuldigt mich bitte bereits jetzt, wertes Volk.
Bist du es Volk?
Womöglich gehöre ich jetzt schon nicht mehr dazu, ich meine zum Volk. Dem Duden sei gedankt, definiert er das Volk als eine durch gemeinsame Kultur und Geschichte [und Sprache] verbundene große Gemeinschaft von Menschen. Meine Geschichte reicht ja gerade mal knappe dreissig Jahre zurück, von Sprachen möchte ich lieber gar nicht sprechen, hier in Argentinien versteht man mich manchmal, Leute aus Deutschland loben mich, dass ich ganz gut deutsch spreche und bekanntlich zählt das Schweizerdeutsch ja nicht mal als Sprache. Was bleibt da noch? Okay, die gemeinsame Kultur, erneuter Dank an Herrn Duden, die Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft. Das Volk kann da ja höchstens als geistige Leistung bezeichnet werden, zumindest steckt grosse geistige Vorstellungskraft dahinter. Und jetzt mache ich nicht mal bei dieser Leistung mit. Mein Fazit, ich gehöre nicht zum Volk dazu.
Aber irgendwo bin ich doch auch mit dabei, zumindest bei einer Gemeinschaft (rein mathematisch sicherlich). Vielleicht hilft mir die Sprache weiter. Wenn es auch keine gemeinsame gibt, so haben sie immerhin Gemeinsamkeiten. Übersetze ich das Wort Volk in die Sprachen, die mir geläufig sind, finde ich eine Parallele, die Nation. Also gehöre ich zu einer Nation! Wieso nicht, habe ich mir doch erst kürzlich eine neue Nationalität zu getan. Wie es englisch so schön heisst, habe ich mich naturalisiert. So gehöre ich nun zum argentinischen Volk. Meinen roten Pass habe ich aber auch noch hier. Hmm? zuerst habe gar kein Volk und jetzt plötzlich zwei. Ist denn dieses leidliche Volk etwa die Zugehörigkeit zu einem Staat? dem Schweizerischen oder Argentinischen?
Volk?
Aber das mit dieser Nation ist ja doppelt so verwirrend als das Volk! Hier danke ich dem lieben Benedict Anderson (wir bilden quasi ein Volk oder Nation, da ich zumindest seine geistige Leistung teile). Er spricht von der Nation als kümmerliche Vorstellung, die wohl nicht länger als 200 Jahre existiert. Die Nation ist dabei die vorgestellte Gemeinschaft (mit den genannten Attributen) in einem Territorium, wo wir schon nahe zum Nationalstaat kommen. Aber bitte, liebes Volk, kennt ihr wirklich alle Mitglieder in Eurer Nation, ich zumindest nicht. Woher soll ich da wissen, welche geistigen oder künstlerischen Leistungen ich mit den anderen teile? Ganz zu schweigen von der Sprache, in meinem Volk Nummer 1, wie auch in Nation Nummer 2, weiss ich nur zu gut von sprachlichen Unterschieden. Von kulturellen oder geschichtlichen Gemeinsamkeiten einer Nation zu sprechen, werde ich mich hüten. Vielleicht von meinem nächsten Umfeld würde ich eine Aussage wagen. Alles was darüber hinausgeht ist doch verkappte ethnische Vorstellung einer Nation. Als hätte ich eine nationale Identität mit tausenden von Menschen die ich nicht kenne. Ich besitze lediglich meine kleine subjektive Vorstellung von Werten und Einstellungen. Würde ich diese über ein ganzes Land stülpen, fänden allzu viele Menschen keinen Platz im meinem vorgestellten Volk. Und da kämen wir ganz schnell zum populistischen Weltbild, wo es die richtigen und falschen Bürgern gibt. Und der Feind allzu schnell bei den "Anderen" zu finden ist.
Was bleibt? Na ja, schauen wir die Geschichte mal an, gemeinsame oder nicht. Wir leben in einer Welt, die von stetiger Migration geprägt ist, weit über meine knappen dreissig Jahren und ebenso dem Alter des Nationalstaates hinaus. Sei es im kleinen von der Langstrasse Nr. 12 zur Nummer 143 oder auch weit, zum Beispiel über die Ozeane nach Südamerika oder die Fidschiinseln. Bewegt, entwickelt haben sich alle, wo wir momentan leben entspricht eher einem Zufall. Und so bevölkern wir fröhlich die Welt. Von Nation bleibt da wenig, nur, dass wir uns stets in einem nationalen Territorium befinden. Wer dort lebt würde ich dann doch weit lieber als Bewohner oder meinetwegen Bevölkerung bezeichnen. Quasi ein bürgerlicher Nationalismus, da man unter einem politischen System lebt (das kennt immerhin jeder), das den Zivilbürgern Rechte und Pflichten aufgibt, mit etwas Glück durften die Bürger sogar bestimmen was für Regeln herrschen (wo wir bald zur Frage der Stimmberechtigung von nicht naturalisierten, also Ausländer, sprich Immigranten kommen, aber dazu vielleicht später Freunde der Demokratie). Oder doch - sprechen wir darüber. Wo wir hier über Gemeinschaft diskutieren. Wenn wir schon Gemeinsamkeiten suchen, dann bitte konsequent. Da lebt jeder von uns, wertes Volk, in selbst erdachten Staatsgrenzen. Wieso sollen die Rechte vor Grenzen und Nationalitäten Halt machen. Was sind schon Volksrechte, wenn es das Volk nicht gibt? Lassen wir das Volk und die vergebliche Suche danach. Liegt es nicht näher an das Konzept Mensch zu glauben und auf Menschenrechte zu setzen? Denn wir wissen ja nie, auf welcher Seite von welcher Grenzer wir morgen aufwachen werden. 
Unauffindbar

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